Sonntag, 29. März 2015

Was ist mit der Gesellschaft los?


Versuch einer Antwort auf „Ein Update zu Flug 4U9525



Liebes Copinchen,

diesen Beitrag hatte ich ursprünglich als Kommentar zu deinem Blogeintrag angefangen, stellte aber fest, dass ich mich dafür nicht kurz genug fassen kann.

Früher wollte ich einmal unbedingt Journalistin werden. Musste aber einsehen, dass ich für diese Branche nicht abgebrüht genug bin. Dass ich die Chance bekam, als Öffentlichkeitsarbeiterin im medizinisch-wissenschaftlichen Bereich zu arbeiten, fand ich einen guten Kompromiss und dachte, hier gäbe es gewissermaßen einen „geschützten Raum“, in dem man nicht einfach heillos ausgeliefert ist. War es doch eine Fachrichtung, in der es häufig um Leben und Tod geht.

Als ich zum Schutz eines sterbenskranken Patienten einmal bestimmte Aufnahmen abgelehnt habe, bekam ich vom Journalisten gesagt: "Aber unsere Zuschauer wollen das sehen."

Erstens: Glaube ich nicht. Denn ich bin auch Zuschauerin, und selbst wenn ich in der Minderheit bin: Ich will nicht alles sehen. Denn es gibt Bilder, die bekomme ich nicht mehr aus dem Kopf, weil das damit verbundene Ereignis so grauenhaft ist, dass mich allein das Mitfühlen mit den Betroffenen verfolgt und überfordert.

Zweitens: Selbst wenn es Zuschauer gibt, die das sehen wollen – vielleicht auch nur, weil dies ihre Art ist, mit einer Katastrophe umzugehen … dadurch wird ein Mensch jedoch nicht automatisch zur Person des öffentlichen Lebens. Selbst wenn die unbändige Wut einen Teil von Trauer ausmacht, und man zu wissen meint, gegen wen man sie richten kann. Ein anderer Teil vom Umgang mit Trauer und Schock ist das Stöbern nach Informationen, um etwas, irgendetwas aufzutun, was das Unbegreifliche fassbarer macht.

Am schlimmsten ist für mich, dass die sogenannte „Schwarmintelligenz“ sich auf die jüngsten Gerüchte stürzt (möglichst als Quelle die Bildzeitung nennend), ohne abzuwarten, ob dies auch offizieller Bestätigung standhält. Und dass aus den Fakten voreilige Schlüsse gezogen werden. Dies wiederum hat zur Folge, dass einige Journalisten meinen, der Zweck der Nachfrage heilige die Mittel, ein entsprechendes Angebot zur Verfügung zu stellen.

Im Beitrag „Berichterstattung zu Flug 4U9525 - Zwischen Journalismus und Sensationslust“ schreibt Bastian Ewald: 

„ […] Hysterie und wütende Spekulation sind in diesem Moment die wohl schlechteste Option: Sie zeugen vielmehr von der Unfähigkeit, echtes Mitleid und Empathie zu formulieren.
Aber unter zahlreichen Reaktionen im Netz findet sich so etwas, wie ein gemeinschaftliches Mitgefühl - und das verständliche Bedürfnis nach Aufklärung und Einordnung des Geschehenen. Und genau das sollte Berichterstattung bedienen.
Grenzen muss es geben, richtig. Tabus nicht. Dazu müssen auch Journalisten immer wieder ihre Arbeit hinterfragen: Was müssen wir erfahren?
[…]
Wir alle müssen diese Grenze dort ziehen, wo Betroffene empfindlich in ihrer Privatsphäre verletzt, in Angst und Schmerz der Öffentlichkeit präsentiert werden. Ignorieren sollten wir deren Schicksale und Emotionen jedoch nicht, denn das zeichnet (Mit-)Menschlichkeit aus. [...]“


Insofern finde ich es einen guten Schritt von Germanwings, die Angehörigen (alle! Angehörigen) vor Anfragen der Presse zu schützen und das öffentliche Interesse über die Pressestellen zu filtern und kanalisieren.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Auch wenn das dem „Schwarm“ nicht schmeckt. Dies war nicht der Hintergrund, vor dem „Je suis Charlie“ für die Pressefreiheit aufgestanden ist.

Die Öffentlichkeitsarbeit habe ich übrigens kurz nach der eingangs erwähnten Szene aufgegeben. Anscheinend bin ich nicht einmal dafür abgebrüht genug. Mir scheint fast, als Einsiedlerin, die auf eine Öffentlichkeit weitgehend ganz verzichtet, bin ich am besten aufgehoben.

Ich würde in meiner Einsiedelei auch Gästebetten zur Verfügung stellen für Mitmenschen, die mal eine Pause von „der Gesellschaft“ brauchen.

Mit ganz herzlichen Grüßen

Deine Nel