Montag, 30. Januar 2012

Vom Gutenbergen oder: Erste Sätze

"Ich bin gerade auf dem Weg zum Emir."[1] - Im Moment verfolgen viele Menschen die Dramödie, die mit diesem Satz begonnen hat. Auf einen Abenteuerroman tippt Hellmuth Karasek und verweist  auf "die extreme Bedeutungskulisse, die damit aufgebaut wird". Wenn ich der Lektor wäre und das "Wulff-Manuskript" in der Hand hätte, würde ich spätestens jetzt dem Autor mitteilen: Kommen Sie bitte endlich irgendwie zum Schluss, Ihre Geschichte dreht sich nur noch im Kreis. Sie nerven Ihr Publikum.
 
Aber ich bin nicht der Lektor, und ich habe im Augenblick ein anderes Problem: Mir fehlt der erste Satz für Kapitel 15. Ich habe die Szene vor meinem geistigen Auge, der gedankliche Bühnenbildner hat ganze Arbeit geleistet. Der scheidende Boss in seinem Noch-Vorstandsbüro an seinem Noch-Schreibtisch. Der Blick schweift von der Akte vor ihm zum Fenster mit Aussicht. Nachmittagssonne auf der Skyline im Hintergrund und auf dem Firmengelände. Dummerweise ist das Kameraführung und keine Schriftstellerei.
 

Also mache ich mich auf, einen zur Kulisse passenden ersten Satz zu guttenbergen. Gutenbergen, genau gesagt, denn beim Stöbern im Projekt Gutenberg finde ich meistens brauchbare Anregungen. 

"Schlag' nach bei Shakespeare", heißt es doch[2]. Da ich sowieso zum Streichen und Umformulieren neige, werden bei meiner Version vom Guttenbergen die Leser später keinen Bezug mehr zum Original mehr herstellen können. 

Mal sehen, was der Barde so hergibt.

Dummerweise hat der Kaufmann von Venedig nicht viel gemein mit dem Rüstungsindustriellen aus Virginia. Auch beim themenbezogeneren "Antonius und Cleopatra" finde ich spontan keinen passenden Aufhänger. Aber über Alexandria – Ägypten assoziiere ich mich hin zu einem anderen Meister, und lande bei Schillers "Ring des Polykrates":
Er stand auf seines Daches Zinnen,
Er schaute mit vergnügten Sinnen
Auf das beherrschte Samos hin.
»Dies alles ist mir unterthänig,«
Begann er zu Ägyptens König,
»Gestehe, daß ich glücklich bin.« –
Vertrauter sind mir diese Verse in der Version, wie mein Opa sie zu rezitieren pflegte ("Er saß auf einem Sack voll Linsen/und schaute mit vergnügtem Grinsen ..."). 

Aber hey – damit kann ich arbeiten. Gib mir ein Versmaß, schon bin ich dabei:
Er stand an seines Büros Fenster
und sah ins Leere; die Gespenster
seines Lebens suchten ihn
heim. "So ändern sich die Zeiten
und die, die mich durch sie begleiten.
Ich lebe noch – und sie sind hin."
Gut, denn. Das nehme ich mal so mit ins Manuskript.

Ich bin dann mal weg, den Anfang von Kapitel 15 editieren.

[1] Kolportiert wird im Web, dass Christian Wulff, Bundespräsident, eine – DIE - Nachricht auf der Mailbox von Bild-Chefredakteur Diekmann so einleitete.
[2] aus Kiss Me, Kate von Cole Porter/Samuel und Bella Spewack

2 Kommentare:

  1. Wie wär's mit etwas ganz Schlichtem:
    "In der Kantine gibt's heute Erbsensuppe."

    Okay, dem wohnt nicht das Tragische deines Sechszeilers inne, aber warum die Hauptfigur nicht mal menschlich zeigen?

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  2. Der Satz mit der Erbsensuppe ist so tiefsinnig in seiner Schlichtheit, dass ich ihn nicht gern bloß für ein Kapitel vergeuden würde. Ich würde damit gerne ein größeres Epos eröffnen.

    (Ich werde mich beim nächsten "Hänger" aber vertrauensvoll an dich wenden. ;-) )

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